Von der Kreatur zum Kreator

Wenn wir von heute die Wunderkammern der Renaissance und des Barock betrachten, erkennen wir nicht nur das Geistesbild und den Stand der Wissenschaft zur damaligen Zeit, sondern auch den Wunsch oder vielleicht besser gesagt – den Hunger – nach Bildung, Verortung und dem generellen Erkennen von (Sinn)Zusammenhängen. Dieses spiegelt sich vor allem in den Kategorien wieder, mit denen die Sammlungen geordnet und organisiert werden:

  1. Naturalia – Vornehmlich Objekte, die natürlich Vorkommen, also Tierpräparate, Mineralien, Pflanzen und Pflanzenprodukte, was als „von Gott geschaffen“ deklariert wurde
  2. Artificialia – Objekte, die entweder von Menschenhand geschaffen oder Naturalia, die von Menschen veredelt wurden, also viele handwerklich hergestellte Objekte wie Goldschmiederei, Schnitzereien, vor allem aber auch Drechselarbeiten und kombinierte Objekte wie geschnitzte Kokosnuss-Pokale oder goldgefasste Poseidon-Muscheln. Mit diesen Objekten sollte die Konkurrenz des Menschen als schöpferisches Wesen mit Gott verdeutlicht werden.
  3. Scientifica – Schnell wurde jedoch deutlich, dass der Drang nach Wissen und Erkennen, auch dem ständigen Voranschreiten der Wissenschaft, Medizin und Philosophie in der Wunderkammer Rechnung getragen werden musste, wodurch die Kategorisierung um den Bereich Scientifica erweitert wurde. Scientifica sind streng genommen ein Unterbereich der Artificialia, nehmen aber insofern eine Sonderstellung ein, da sie eindrücklich beweisen, dass der Mensch der Schöpfung nicht nur auf der Spur ist, sondern selbst Schöpfer, Gestalter, Kreator sein kann. Vor allem die frühen Automaten, die Instrumente der Geographie, der Astronomie und Mechanik sind interessante materielle Zeugen einer sich rasant entwickelnden Ethik, Wissenschaft und Forschung.

Die vorgenannten drei Kategorien finden sich in jeder Kunst- bzw. Wunderkammer wieder. Jedoch sind, je nach Gusto oder Beziehungen der Sammelnden Person, in jeder Wunderkammer weitere Kategorien zu finden:

  1. Memorabilia – Unter Memorabilia werden Objekte zusammengefasst, die entweder auf eine wichtige Person, ein herausragendes Ereignis oder eine besondere technische oder kulturelle Entwicklung verweisen. Diese Objekte haben einen besonderen Rang in jeder Sammlung und geben am ehesten Einblick in die Persönlichkeit der Sammlerperson. Zu diesen Objekten gehören z.B. ein Trinkglas Luthers, das in der Wunderkammer in Nürnberg aufbewahrt wurde, ein Alexander von Humboldt zugeschriebener Pokal in der Wunderkammer Olbricht in Berlin (der auch unter der Kategorie Artificialia verortet werden kann) oder verschiedene Haarbüschel berühmter Persönlichkeiten, die in nahezu allen Wunderkammern zu finden sind.
  2. Exotica – Unter dem heutzutage eher störend wirkenden Begriff Exotica werden Objekte zusammengefasst, die aus seinerzeit fremden Welten oder Weltgegenden in die Sammlung gelangten und besonderes Interesse produzierten, da sie Emotionen wie Grusel, Respekt oder Angst produzierten.
  3. Spiritualia – Einige Wunderkammern wurden von Theologen, ehemaligen Missionaren oder Religiösen Personen mehrheitlich zum Zwecke der Volksbildung eingerichtet. Vor allem die Francksche Sammlung in Halle/Saale bestand aus Erzeugnissen die u.a. aus den hauseigenen Werkstätten stammte und durch Exponate (sog. „Heilige Sachen“) aus den Missionsländern ergänzt wurden.
  4. Realia – Unter dem Begriff Realia sind Objekte des Alltags, der Geschichte oder Kultur eines bestimmten Volkes, Landes oder Ortes zu verstehen, die für diese Gruppe oder diesen Ort einzigartig sind, also keine Entsprechung bei anderen Völkern, in anderen Ländern oder an anderen Orten haben.
  5. Mirabilia – Unerklärliche, wundersame Dinge, übten eine besondere Anziehungskraft auf die Sammelnden aus, die mit ihren Sammlungen dem Weltgefüge auf den Grund gehen und die Funktionsweise des Makrokosmos im Mikrokosmos verstehen und abzubilden suchten. Hierzu können sicher auch die vielen mechanischen Objekte gezählt werden, die ihre wahre Funktion erst auf den zweiten Blick, beziehungsweise durch haptisches Herumprobieren, Drücken, Drehen, Schrauben und Schütteln offenbaren.

Die hier vorgestellten exemplarischen Kategorisierungen, die bei weitem nicht vollständig sind, erwecken zwar den Eindruck der Eindeutigkeit in Bezug zur Zuordnung, was jedoch in der Realität nicht bei jedem Objekt gegeben ist. Nehmen wir z.B. das Beispiel eines Poseidon-Pokals aus einer Muschel oder Schnecke, der aus einer Naturalie (der Muschel) besteht, durch seine Veredelung als Pokal der Kategorie Artificialia genauso zugeordnet werden kann, wie dem Bereich der Realia, da die verarbeitete Muschel oder Schnecke in manchen Völkern als Gebrauchsgegenstand genutzt wird.

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